Radiosendung: "Heute im Gespräch":
 
Thema: "Was zählt im Leben?"
   
 

Moderator: Dr. Franz Eiselt

 
 
 
Einleitung:
Der Wohlstand ist angenehm, aber nicht alles. Die Menschen suchen nach Werten, Spiritualität und Sinn. Liegt das daran, daß die Menschlichkeit verloren gegangen ist? Was ist das wichtigste im Leben? Karriere, Familie oder soziales Engagement?
Darüber diskutieren wir mit dem Psychotherapeuten, Existenzanalytiker und Logotherapeuten Dr. Helmut Windisch..
 
 
Moderator: Sie sind Existenzanalytiker und Logotherapeut in Wien. Haben Sie den Eindruck, daß Werte in unserer Gesellschaft wieder an Bedeutung gewinnen?
   
 
Windisch: Dazu wäre zu sagen, daß es meiner Ansicht nach niemals eine Kultur, eine Gesellschaft gegeben hat, die ohne spezifische Werte das Auskommen gefunden hat. Die Frage stellt sich also weniger, ob Werte wieder eine Bedeutung erhalten, sondern es ist eher von der Feststellung auszugehen, daß wir in einer Zeit leben, welche mit einem gravierenden Wertewandel einhergeht: Einerseits tragen uns Traditionen nicht mehr, anderseits, was andere empfehlen oder wir tun sollen, erfüllt aber viele häufig nicht. D.h. es gibt einen Wandel, auch in der Ethik wirtschaftlichen Handelns. Vom Menschen der Gegenwart wird zunehmend Funktionalität verlangt. Daneben existiert eine individuelle Werthaftigkeit, deren Diskussion auch Gegenstand dieser Sendung werden wird. Letztlich wird es darum gehen, daß sich der Mensch neu zu orientieren hat.
   
 
Moderator: Welche Werte sind denn im Kommen?
   
 
Windisch: Dies läßt sich generell schwer abschätzen. Im Allgemeinen läßt sich sagen, daß sich unsere Gesellschaft in den letzten Jahren im Rückzug befindet und wie sich beobachten läßt, eher familiäre Werte forciert werden oder ein Rückgriff auf traditionell erprobte Werte stattfindet, wie z.B. das Bild der heilen Familie. Gleichzeitig besteht jedoch ein Hunger nach Existenzialität, der offensichtlich nicht durch die derzeitige Gesellschaftsform und Gesellschaftsordnung abgedeckt werden kann.
   
 
Moderator: Zur Begriffsklärung: Was ist Logotherapie und Existenzanalyse?
   
 
Windisch: Logotherapie und Existenzanalyse ist eine anerkannte Psychotherapieform, die von dem Wiener Psychiater Viktor Frankl begründet wurde. Logos meint in erster Linie den Sinn, anthropologisch, die Geistigkeit des Menschen. Diesbezüglich wäre ergänzend zu definieren, was als Geist des Menschen anzusehen ist. Das Ziel einer psychotherapeutischen Existenzanalyse ist, einem Menschen zu einem entschiedenen und erfüllten Leben zu verhelfen. Eine anthropologische Sicht postuliert, daß der Mensch nicht von irgendwelchen inneren Kräften getrieben oder an äußere Sachzwänge gebunden ist, denen er ausgeliefert ist oder sich einzufügen hat. In Kürze gesprochen: In erster Linie geht es um die Verwirklichung des eigenen Lebens; in der Therapie, daß das was die eigene Lebendigkeit verschüttet oder hemmend im Vordergrund steht, wie z.B. eine Angst, geborgen wird, ein Umgang gefunden wird, um die Existenz des Einzelnen in Freiheit und Verantwortung zu ermöglichen.
   
 
Moderator: Frankl hat ja gesagt, man kann sich verwirklichen, wenn man dem Leben einen Sinn gibt.
   
 
Windisch: An dieser Stelle möchte ich auf Grund der unterschiedlichen Interpretationen des Postulats von Frankl auch sehr kritisch sein: Sinn kann nur von der Person selbst gefunden werden. Weder kann dieser gegeben, noch von der Welt festgelegt werden. Um dies an einem Beispiel aus dem Alltag zu demonstrieren: Es ist nicht grundsätzlich sinnvoll, wenn mir mein Arbeitgeber sagt, daß ich Überstunden zu leisten habe und ich mich mit der Hoffnung zu trösten versuche, meiner Karriere dienlich zu sein. Sinn ist etwas, was eine Person nur in sich auffinden kann.
   
 
Moderator: Im Idealfall findet also jeder von uns einen Sinn für den er eintritt und lebt. Nur, wie geht das? Gibt’s da ein „Rezept“?
   
 
Windisch: Diesbezüglich wäre voranzustellen, daß der Mensch im allgemeinen nicht nach dem Sinn des Lebens fragt. Lebt er authentisch, hat sich die Frage nach dem Sinn des Lebens erübrigt. Sinn wird zu einem Epiphänomen seines Lebens. Aber wie wir feststellen können, stellt sich gegenwärtig für viele Menschen sehr häufig die Sinnfrage. Sie hat also ihre Aktualität behalten, war also nicht nur in den schrecklichen Jahren des 2. Weltkriegs und danach aktuell. Die Frage lautet: Wie finde ich den Sinn? Vorhin meinte ich, daß der Sinn nicht über die Welt zu finden ist. Sinnfindung beinhaltet ein sich selbst „Bestehen-lassen-können“, ein „Auf-sich selbst –hören“ können und sich selbst ernst zu nehmen.
   
 
Moderator: Welche Erfahrungen haben Sie gemacht? Rufen Sie uns an.
   
 
Am Telefon ist jetzt Eva-Maria: Wie geht es Ihnen mit dem Glück und mit der Erfüllung im Leben?
   
 

Fr. Eva-Maria: Ich denke, daß das Glück wirklich nur in sich selbst gefunden werden kann. Ich kann z.B. jedes Jahr auf Mauritius auf Urlaub fliegen und jedes Jahr ein neues Auto haben, in einer erstklassigen Wohnung leben und trotzdem eigentlich unglücklich sein, weil ich nicht ich selbst bin. In dem Moment, wo ich verstehe, daß um mich gesorgt wird, daß jemand da ist und ich diese Dinge nicht wirklich brauche um glücklich zu sein, in diesem Moment bin ich auch frei und werde glücklich.

   
 
Moderator: Das heißt, Sie brauchen keine großen Sachen, sondern mit Kleinigkeiten können Sie glücklich sein?
   
  Fr. Eva-Maria: Ja
   
 
Moderator: Danke, Fr. Eva-Maria. Hr. Windisch, die Dame hat gesagt, sie hat sich selbst gefunden, so kann man glücklich sein.
   
 
Windisch: Fr. Eva-Maria hat etwas Elementares erwähnt. Es ist die Freiheit, die sie offensichtlich zu erleben vermag. Daneben stellt sich die Frage, was denn mit den „großen Sachen“ gemeint ist. Betrachten wir unser Leben, so müssen wir ebenfalls berücksichtigen, daß wir nur eine begrenzte Zeit im Da-Sein zur Verfügung haben, daß unsere Kräfte schwinden, wir erkranken, usw., kurz, auch von der leidvollen Seite des Lebens. Fr. Eva-Maria hat dargestellt, daß sie in sich ruhen kann, sich in sich selbst findet und darin auch Erfüllung findet.
Was ich nicht ganz verstehen kann, ist die allgemeine Auffassung über das Streben nach Glück. Glück selbst meint eine Gestimmtheit, ist aber anderseits nur ein Stadium zur Seligkeit. Als Gestimmtheit kann Glück nur eine Folge sein von Etwas, die Folge von Erfüllung. Also es ist das Tun, mein Handeln, meine Zuwendung, -soviel zu den Werten- die letztlich mich eventuell glücklich machen können, indem ich etwas erfüllt habe.
   
 
Moderator: D. h. ich entscheide selber, ob ich glücklich werde oder nicht.
In der Leitung haben wir jetzt den Hrn. Franz
   
 
Hr. Franz: Es verhält sich so, daß sehr viele Menschen heute nicht mehr glücklich sind. Sie haben Geld, haben Güter, nur haben sie ein Problem mit dem wirklichen Leben. Meiner Meinung nach ist das wirkliche Leben ein ausgefülltes Leben: Und zwar mit Arbeit, vernünftiger Freizeitgestaltung wie Gartenarbeit. Heute muß man schon künstlich Sport betreiben, damit der Mensch fit bleibt. Man muß sich einfach kreative Sachen suchen. Man geht laufen in die Halle, aufs Band, obwohl es in der Natur so schön ist. Also der Mensch versumpft und ist dadurch natürlich unglücklich.
   
 
Moderator: Danke Hr. Franz. Er hat gemeint, viele Menschen hätten genug Geld, aber ein Problem mit dem wirklichen Leben.
   
 
Windisch: Was mir an dieser Meinung sehr stark auffällt ist, daß sie aus einer bestimmten Perspektive erfolgt. Die dargestellten Beispiele erlauben schon die Frage, welches Motiv ein Mensch zu einer Handlung bewegt, z.B. wenn er ein Training in einer künstlichen Welt absolviert und sich dadurch ausfüllt. Durch die Klärung könnte sich durchaus ergeben, daß ein Mensch sich von sich selbst entfernt hat – oder auch nicht.
   
 
Moderator: Was gehört denn zu einem erfüllten Leben?
   
 
Windisch: Zu einem erfüllten Leben gehört zweifellos das Erleben und das Bewußtsein über jene Ziele, die einem Menschen wichtig sind.
   
 
Moderator: Für jeden Menschen stellen sich einmal Fragen, wie: Ist der Beruf wichtiger als meine Familie? Habe ich genug Zeit für meine Kinder? Hr. Windisch, wie würden Sie eine solche Frage beantworten?
   
 
Windisch: Wir leben sicher in einer Zeit, in der dem Einzelnen immer weniger an Freizeit zur Verfügung steht. Einerseits nützen wir alle die Vorzüge der Technik, anderseits ist es auch jenes Medium, welches unsere Aufmerksamkeit bindet und geeignet ist, uns Zeit zu rauben.
Hier kommen wir wieder auf die Bedeutung von Werten zu sprechen: Wenn ich mich für eine Option entscheide, so muß ich von einer anderen Abstand halten. Wenn ein Familienvater beispielsweise ein Übermaß an Zeit für berufliche Leistungen verbringt, so werden ihm für sich oder seiner Familie diese Zeit fehlen. Egal, ob die Kinder mehr familiäre Gemeinsamkeit wollen oder nicht, werden sich aus der getätigten Entscheidung Konsequenzen ergeben. Jede Entscheidung bedeutet im Sinne der Priorität, daß ein Wert eine Bevorzugung gegenüber einem anderen erfährt. Die Problematik stellt sich erst ein, wenn über die Bedeutung der zu treffenden Entscheidung, wie vorhin erwähnt, kein Bewußtsein herrscht.
   
 
Moderator: Ist es nicht auch möglich, daß man eine Balance herstellt? Daß diese Dinge gleichwertig behandelt werden? Daß ich mich dem Beruf genauso widme, wie der Familie? Geht dies nicht? (Heiter)
   
 
Windisch: Ihre Fragen sind eher theoretisch und müßten für deren Verwirklichung von der Kultur angestrebt werden, meine aber, daß wir uns derzeit von einer allgemeinen Diskussion über eine qualitative Lebensführung eher entfernen. Außerdem möchte ich noch hinzufügen, daß wir in einer Welt leben, in der wir von einem hohen Maß von Unsicherheiten begleitet werden und wir im Eigentlichen selbst unseren Alltag nicht voraussehen können.
   
 
Moderator: Am Telefon ist jetzt die Fr. Andrea. Wie geht es Ihnen mit Beruf und Familie?
   
 
Fr. Andrea: Also ich muß sagen ich bin sehr zufrieden. Ich bin 55 Jahre alt, Krankenschwester und auch mit meinem Beruf sehr zufrieden. Es kommt eigentlich darauf an, daß ich erkannt habe, daß wir im Leben eigentlich alles haben. Nur muß man dies erkennen und wenn wir dies erkannt haben, dann ist man auch zufrieden. Wir haben alles wenn wir auf die Welt kommen, wenn wir gesund sind. Nur wenn der Mensch dies nicht erkennt, wird er immer unzufrieden sein. Ich habe schon 80-jährige erlebt, die gesagt haben, sie haben alles, sind 80 Jahre alt geworden und haben nichts gehabt vom Leben. Und die haben aber nichts erkannt, weil sie nie krank, immer gesund waren. Aber es gibt auch Menschen, die krank und zufrieden sind.
   
  Moderator: Bitte, Hr. Windisch
   
 
Windisch: Fr. Andrea, was sie sagen ist an sich schon bemerkenswert: Wir haben grundsätzlich alles in unserem Leben, wobei Sie für sich selbst dieses „alles“ als materiell definieren und das Erkennen in den Vordergrund stellen. Aber gerade als Krankenschwester möchte ich auch erwähnen, daß es zu unserem Leben gehört, alt zu werden, krank zu werden. Mit höherem Lebensalter schwinden unsere Kräfte und wir werden immer weniger in der Lage, jene Dinge auszuführen, die wir uns wünschen. Dadurch sind wir mit unseren Defiziten konfrontiert. Ich kann mir also gut vorstellen, daß in Folge für viele Menschen der natürliche Lebensverlauf Fragestellungen hervorbringt oder jemanden zu einer Infragestellung bringt.
   
 
Moderator: Kann man das Leben mit einer schweren Krankheit überhaupt noch sinnvoll gestalten?
   
 
Windisch: Grundsätzlich meine ich, daß, wenn wir auf das Leben schauen, junge Menschen quasi in einem Modus der Unsterblichkeit zu leben scheinen und demgemäß auch oft handeln, während der ältere od. kranke Mensch zunehmend fokussiert, was für ihn wichtig und von Bedeutung ist.
   
 
Moderator: Diskutieren Sie mit: Nach den Terroranschlägen in New York haben traditionelle Werte, wie Sicherheit und Zusammengehörigkeit wieder an Bedeutung gewonnen. Dem Rückzug in die eigenen vier Wände folgt die Suche nach dem Sinn. Was ist für Sie am wichtigsten ? Und was bereichert ihr Leben?
Was zählt im Leben, das ist unser heutiges Thema. Und ich habe auf Grund der bisherigen Anrufe so den Eindruck erhalten, „wenn ich reich bin, dann habe ich alles“, oder, „wenn ich gesund bin, dann habe ich alles“. So einfach scheint es aber nicht zu sein. Was sagen Sie dazu, Hr. Windisch?
   
 
Windisch: Tatsächlich bieten die angesprochen Umstände, wie vorhandener Reichtum oder Gesundheit keine ausreichende Antwort für eine Sinnfindung. Hier erhebt sich die Frage, was Gesundheit oder Reichtum einem Menschen ermöglicht. Um hier kein Mißverständnis aufkommen zu lassen: Natürlich ist soziale Gerechtigkeit ein wesentliches Element einer Kultur und Gesellschaft, wie auch von Bedeutung für den Einzelnen. Aber Tatsache ist auch, daß, wie vorhin angesprochen worden ist, Gesundheit, als nicht erlebter Wert eben keinen Wert darstellt.
   
  Moderator: Am Telefon ist jetzt Fr. Brigitte.
   
 
Fr. Brigitte: Meine Meinung dazu ist, um wirklich glücklich sein zu können, bedarf es auch einer gewissen Reife. D.h,. wenn ich reif genug bin, z.B. eine Krankheit anzunehmen und aus der Krankheit etwas Positives herauszuholen, dann kann man auch damit glücklich sein. Ich glaube, daß sich ältere Menschen, die viel krank waren, bei diesem Thema leichter tun, als jüngere Menschen.
   
 
Moderator: Hr. Windisch, ist die Reife so entscheidend?
   
 
Windisch: Natürlich hat Reife eine große Bedeutung in unserem Leben, in dem Sinne, daß einem jungen Menschen häufig Lebensphänomene noch verschlossen sind, die zu den allgemeinen Erfahrungen älterer Menschen gehören. Dies bedeutet natürlich nicht, daß ein höheres Lebensalter auch Reifung bedeutet. Ansonsten dürfte es sich so verhalten, daß, wenn wir in die Tatsachen des Lebens, wie z.B. in die Unumgänglichkeit des Krankwerdens einwilligen, uns auch die Vergänglichkeit des Lebens vor Augen geführt wird.
   
 
Moderator: Was meinen Sie mit „in die Tatsachen einwilligen“?
   
 
Windisch: Es ist ein gegebenes Faktum, daß unser Leben im engeren Sinne begrenzt ist. Vieles in unserem Leben ist auch oft eine Illusionen, wie z.B. Sicherheit, weil sie die Terroranschläge des 11. Septembers angesprochen haben. Niemand kann wissen, wie lange er tatsächlich leben wird oder verfügt über die Gewißheit, von den Schwernissen des Lebens verschont zu bleiben.
   
 
Moderator: In der Leitung haben wir Fr. Astrid.
   
 
Fr. Astrid: Ich bin der Meinung, daß glücklich sein nicht nur aus Reichtum und Gesundheit besteht, ich sehe „das Auf und Ab“ im Leben. Das gehört genauso dazu. Beispielsweise Erfolge von einem Kind, aber auch die Schicksalsschläge. Ich glaube, die machen einen reifer und auch zufriedener. Erst dann begreift man, daß glücklich sein aus vielen Komponenten besteht.
Moderator: Es ist ja auch von Krankheit die Rede gewesen. Kann man auch mit Krankheit glücklich sein?
Fr. Astrid: Man muß die Krankheit eben annehmen, das Beste daraus machen und darin einen neuen Lebensabschnitt sehen.
   
 
Windisch: Diese Meinung kann ich durchaus unterstützen. Der Wert des Lebens ergibt sich, wie wir bereits angesprochen haben, auch deshalb, weil wir vergänglich sind und wir Menschen einer unvorhersehbaren Schicksalhaftigkeit gegenüberstehen. Diese Tragik birgt aber auch eine Chance. Es stellt sich die Frage, weshalb jemand in seine Lebensumstände einwilligen kann. Diese Form des Lebens, in dem ich nun stehe, auf mich zu nehmen versuche, bietet aus ideeller Sicht eine Gelegenheit etwas über das Leben zu erfahren. Ein persönliches Schicksal kann sehr schwer sein, ist also nicht immer grundsätzlich annehmbar und dennoch ist ein erfülltes Leben möglich.
   
 
Moderator: Hr. Windisch, der Mensch möchte doch alles. Eine glückliche Partnerschaft, Kinder, Erfolg im Beruf, als soziales Wesen Anerkennung und Gegenliebe. Geht das alles überhaupt?
   
 
Windisch: Aus meiner Erfahrung und aus der psychotherapeutischen Praxis gesprochen dürfte es sich so verhalten, daß eine Vielzahl von Menschen unglücklich sind. Viele Menschen leben kein erfülltes Leben und es sind oft mehr quälende Fragen da, als Antworten gefunden werden können. Der Mensch der Gegenwart steht ständig vor Wertprioritäten, muß ständig Entscheidungen treffen und vieles bleibt dabei auf der Strecke. Schließlich kann der Mensch sich der akkumulierten Spannung nicht mehr entziehen.
Tragisch wird es aber dann, wenn der Mensch sich selbst zu verfehlen beginnt, wenn z.B. die Versuche, es jedem Recht zu machen eine Priorität einnehmen oder in der Funktionalität aufzugehen- wie man es heute so häufig vorfindet. Die Gefahr ist, daß er sich selbst entfremdet, sich selbst nicht mehr wahrnimmt, zu seiner eigenen ihn bewegenden Tiefe nicht mehr gelangt. Auch wenn ein großer Besitz oder berufliche Erfolge vorhanden sein mögen, bleibt dann dennoch ein latentes Gefühl der Unzufriedenheit oder Leere zurück.
   
 
Moderator: Unser nächster Anrufer ist der Hr. Hans.
   
 
Hr. Hans: Beruf und Karriere ist für die „oberen Zehntausend“. Denn in der gewöhnlichen sozialen Schicht gehen sowohl sie als auch er arbeiten und die paar Stunden, die dann noch bleiben, opfert man seiner Familie. Aber Karriere kann sowieso niemand machen, bei der heutigen Entlohnung: Danke und auf Wiederhören.
   
 
Moderator: Hr. Windisch: Hängen Glück oder Erfüllung vom Einkommen ab?
   
 
Windisch: Hr. Hans hat eigentlich ein umfassendes Thema angesprochen. Er wirkte auf mich sehr frustriert und enttäuscht. Aber gleichzeitig hat er auch zum Ausdruck gebracht, was ihm persönlich wichtig ist und das ist die Gemeinsamkeit seiner Familie. Auch wenn er indirekt kritisierte, daß ihm eine Karriere verschlossen bleibt, meine ich, daß jeder Mensch in jeder Situation noch Erfüllung finden kann. Das mag nicht immer leicht sein, glaube jedoch, daß dies zu erkennen in erster Linie von der grundsätzlichen Orientierung einer Person abhängig ist. Denn wenn, wie Hr. Hans sagte, beide Eheleute sich tagtäglich abschuften, wofür soll es sich denn dann noch zu leben lohnen?
   
 
Moderator: Am Telefon ist jetzt Hr. Rudolf: Sie haben eine Frage an unseren Psychotherapeuten?
   
 
Hr. Rudolf: Ja, also ich finde Ihre Ausführungen hochinteressant. Insbesondere die Erwähnung einer Wahrnehmung der eigenen Tiefe. Das hat mich allerdings auf einen Gedanken gebracht. Was würde der Hr. Windisch sagen? Ich habe eine 14-jährige Tochter. Wie würde er einer jungen Teenagerin etwas darüber sagen, was Werte und Tiefe mit dem Leben zu tun haben?
Das würde mich sehr interessieren!
   
 
Windisch: Es freut mich sehr, daß Sie sich mit dieser Frage gemeldet haben. Wie würde ich dies Ihrer jungen Tochter sagen? Ich glaube, wenn wir mit der Sprache des Kindes sprechen- und diese einfache Sprache ist mit der Sprache der Liebe verwandt – dann ist es die Freude. Die Freude an der Lebendigkeit. Und diese kann sie darin finden, was sich ihr zuspricht und ihr persönlich Freude zu bereitet vermag und sie selbst als gut erlebt. Ein Mensch wird sich niemals gegen solche Zuwendungen wehren.
   
  Hr. Rudolf: Ja, das ist eine sehr schöne Antwort!
   
  Moderator: Wissen Sie es jetzt?
   
 
Hr. Rudolf: Also, die Freude an der Lebendigkeit. Das ist nicht nur für Kinder brauchbar!
   
 
Moderator: Natürlich muß man, wie der Hr. Rudolf sagte, mit Teenager eine eigene Sprache sprechen. Dies sind Jugendliche in einem speziellen Alter, die für solche „gescheiten“ Themen oft nicht so empfänglich sind.
   
 
Windisch: Das kann schon öfters zutreffen. Aber ich glaube, daß Kinder oder Jugendliche, egal in welchem Alter oder Pubertätsabschnitt, die Sprache des Herzens verstehen und fühlen können, worum es geht.
   
 
Moderator: Fr. Dorodea hat uns ein Email geschrieben: Sie meint
„Friede und Menschlichkeit sind das Wichtigste“
- und Fr. Johanna schreibt:
„Das höchste Gut ist die Freiheit, alles andere kommt nachher. Ich habe es selbst erlebt.“
Soweit die beiden Emails.
Hr. Windisch, Friede, Menschlichkeit, Freiheit, daß klingt so, als ob dies Schicksalshaft wäre. Können wir nicht auch dazu etwas beitragen?
   
 
Hr. Windisch: Zuerst möchte ich sagen, daß mir die vorgebrachte Idee der Freiheit sehr gefällt. Die Freiheit ist ein Existential und in dem Sinne unbedingt, als ein Mensch immer die Möglichkeit hat zu wählen. Gleichzeitig ist diese Ansicht auch sehr radikal. Denn wenn Freiheit das höchste Gut ist, dann habe ich mich auch mit den jeweiligen Bedingungen – so wie diese sich mir zusprechen – auseinanderzusetzen. Das bedeutet natürlich nicht, daß ich mich an jedes Geschehen anzupassen habe. Dies sind die zwei Seiten der Freiheit.
   
  Moderator: Braucht die Freiheit eine Begrenzung?
   
 
Die Freiheit hat eine Begrenzung, jene der Verantwortung. Der Mensch ist zwar frei, gibt aber auf jede Situation eine Antwort, muß diese geben. Wenn ich an das vorige Thema „Familie und Beruf“ anschließe, so kann ich mein Handeln verantwortungsvoll klären, im Sinne einer Antwort zu einer Entscheidung gelangen.
Die Frage ist, ob diese Freiheit auch erlebt werden kann.
   
 
Moderator: Angerufen hat uns Fr. Renate:
   
 
Fr. Renate: Meine Gedanken zum Glück sind, daß man eine gewissen Bescheidenheit und Dankbarkeit braucht. Es beginnt schon damit, daß wir das Glück haben nicht in einem Land auf die Welt gekommen zu sein, wo Krieg oder Unfrieden herrscht, oder ein Land, welches zu der Dritten Welt gehört, wo man gar nicht so die Möglichkeit hat glücklich zu werden. Bei uns, wenn man die richtigen Werte setzt und nicht alles für selbstverständlich nimmt, da kann man glücklich werden.
   
 
Moderator: Was meinen Sie mit „richtige Werte“ setzen?
   
 
Fr. Renate: Ja, es ist nicht selbstverständlich, daß ich einen lieben Mann habe, daß ich Kinder habe und daß diese wohlgeraten sind. Freilich habe ich mich bemüht diese zu erziehen, aber sie könnten ja auch in eine schlechte Gesellschaft kommen. Und es ist auch nicht selbstverständlich, daß mir nichts weh tut. Natürlich trage ich auch das meine bei, indem ich mich bemühe, nicht „über die Strenge“ zu hauen, wie man sagt. Und darum glaube ich, man sollte das Glück „im Winkel“ sehen und nicht immer nur nach oben schauen, daß andere mehr haben oder sich mehr leisten können, sondern mit dem was man hat und was gar nicht so selbstverständlich ist, daß man mit dem zufrieden und dafür dankbar ist.
   
  Moderator: Ja, danke, Fr. Renate:
   
 
Windisch: Das ist sicher eine allgemeine Frage der Ethik und eine Herausforderung für ethische Richtlinien für die Globalisierung. Aber um aus anthropologischer Sicht auf voriges Thema zurückzukommen: Weshalb ist ein Mensch überhaupt bereit unter den erwähnten Bedingen, wie z.B. in Armut und Krieg zu leben und dennoch sein Leben auszurichten?
Am Telefonat haben wir Hrn. Gerhard: Hr. Gerhard, Sie wollten uns etwas sagen zu unserer letzen Anruferin.
   
 
Hr. Gerhard: Ja, erstens das und zusätzlich möchte ich Hrn. Windisch gratulieren: Er ist schon von der Stimme her ein weiser Mann. Was ich zum Thema der vorangegangenen Anruferin sagen möchte: Ich habe Freunde in Nepal und Indien und die kommen manchmal in den Westen zu uns auf Besuch. Die Dame in Ihrer Redaktion meinte zwar, daß ich mich kurz fassen soll, ich möchte Ihnen jedoch dies trotzdem sagen:
   
  Moderator: Ja, bitte.
   
 
Hr. Gerhard: Meine Gäste klagen darüber, daß wir so wenig lachen. Sie sagen, wir haben doch alles. Warum lachen wir so wenig? D.h. die meisten Menschen aus diesen Kulturen haben ein Lächeln auf den Lippen. Das ist einerseits ein Teil der Höflichkeit, aber auch Ausdruck von „Sein, -Bewußtsein und Glückseligkeit“. Die Inder sagen: Wir sind das! Und alles andere was wir brauchen um glücklich zu sein, das haben wir schon, - nur haben wir das vielleicht vergessen.
Ich wünsche noch eine schöne Sendung.
   
 
Windisch: Das Thema von Hrn. Gerhard gefällt mir sehr und vermag auch mich anzusprechen. Es hilft uns zu vergegenwärtigen, daß es sich um Menschen handelt, die ohne soziale Sicherheit, ohne Alterversorgung ohne Sozialleistungen, oft ohne regelmäßige Arbeit oder gar ohne Ausbildung in einer Lebensform stehen, welche manch einem Europäer oft nicht geläufig ist.
Auf dem Hintergrund einer spirituellen Tradition wird die angesprochene Orientierung sehr gefördert, indem Freude grundsätzlich eine hohe Bedeutung, einen hohen Wert repräsentiert. Um einen Gegensatz aufzuzeigen – ich zitiere kurz den Erzbischof von Angola, welcher veröffentlichte, daß – „seit vielen Jahren in unserem Land kein Selbstmord passiert sein dürfte“. Dies verhält sich in Europa gänzlich konträr. Österreich gehört weltweit zu jenen die Statistik anführenden Ländern, welche bis zu 10 Selbstmorde pro Tag ausweisen müssen. Das scheint mir ein ernstes Thema zu sein, weil hier bei vielen Menschen nicht nur die Freude verloren gegangen ist, sondern auch das Grundgefühl für die eigene Lebendigkeit.
   
 
Moderator: Wie gibt es das? Wir haben festgestellt, daß wir über Versicherungen und ein Sozialsystem verfügen, aber, wie Hr. Gerhard meinte, wir haben das Lachen verlernt. Wie ist das möglich?
   
 
Moderator: Wie gibt es das? Wir haben festgestellt, daß wir über Versicherungen und ein Sozialsystem verfügen, aber, wie Hr. Gerhard meinte, wir haben das Lachen verlernt. Wie ist das möglich?
   
 
Windisch: Genau dieser Zwiespalt verweist auf das eigentliche Problem: Der Mensch ist oft versucht, nicht durch seine Innerlichkeit und Existenzialität Frieden und Gelassenheit zu finden. In der Regel führt eine derartige Haltung zum Greifen nach kompensatorischen Mitteln, die durch die Vorgaben der Gesellschaft und Kultur ja tatsächlich vorhanden und leicht erreichbar sind. Aber auch in der Funktionalität einer eingenommenen Rolle oder wirtschaftlicher Aufopferung, welches argumentiert werden kann mit, daß dies der Karriere dienlich ist oder der Sachzwang dies eben erfordert, könnte ein Symptom des Verlustes von Existentialität darstellen. Das sind nur Beispiele für ein hohes Maß an aktiven und kulturell unauffälligen Umgangsformen, wodurch aber dennoch letztlich das eigene Leben unerfüllt bleibt.
   
 
Moderator: Wenn wir jetzt zusammenfassen: Was bereichert unser Leben?
   
 
Windisch: Zweifellos Beziehung, vor allem Hingabe, aber in erster Linie Liebe.
   
 
Moderator: Wir kommen zum Ende der Sendung und haben eigentlich noch nicht den „Gegenspruch“ oder „Gegensatz“ ausgeführt. Was tun Sie, wenn Ihnen jemand sagt, daß das Leben sinnlos ist?
   
 
Windisch: Meiner Ansicht nach handelt es sich bei einer derartigen Aussage um eine Überzeugung, welche bereits an den Bereich des Glaubens grenzt. Demgemäß würde ich vorerst entgegenhalten, daß ich das Leben anders sehe.
Weiters würde ich mir die Frage stellen, wie denn dieser Mensch zu seiner Sichtweise gekommen ist und welches Erleben und Erfahrungen dieser vorausgingen.
Jene Haltung, die ich bei einem dialogischem Gespräch einnehme, ermöglicht mir selbst, wie dem Anderen, sich in Offenheit auf das Erleben zu konzentrieren:
Was war geschehen, daß jemand das Dasein als unerträglich absurd und sein eigenes Leben als sinnlos empfinden läßt?
   
  Moderator: Wir danken für Ihren Besuch im Studio!
   
 
   
  Impressum: Bei der ORF-Radiosendung „Heute im Gespräch“ handelt es sich um eine Live- Sendereihe, welche Hörerinnen und Hörern die aktive Teilnahme ermöglicht. Obige Sendung wurde im Auftrag des Studiogastes für private Zwecke transkribiert und zu Gunsten der Lesbarkeit redigiert. Sämtliche Rechte vorbehalten.
Sendedatum: 27.03.2002
   
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